Wünsche
Erdengleich sind die Schalen, braun, rau und schön in ihrem eigenen Glanz. Sie ruhen in ihrer Schlichtheit in sich, als wären sie da, um etwas Kostbares zu beherbergen. Es sind viele, gut 300. Jede hat eine individuelle Gestalt: gross, klein, dünnwandig, dickwandig, flach oder tief. Betritt man den Raum, in dem sie, rhythmisch verteilt, einzeln oder in Gruppen liegen, kann man nicht umhin, zunächst stillzustehen, zu schauen und innezuhalten. Der alltägliche Boden, auf dem wir sonst gedankenlos vorübergehen, hat sich verwandelt und der Raum ist ein anderer geworden. So eigentümlich ist die Wirkung, die das Werk entfaltet. Ein melancholischer Zauber liegt in der Luft, aber auch etwas Meditatives. Nur Kunst vermag eine solche Wandlung zu vollbringen. Ein Weg bahnt sich zwischen den Schalen und lädt ein, darauf zu wandern. Eine besondere Stimmung herrscht, wenn es Nacht ist und zwischen ihnen Kerzen brennen. In jeder Schale schwimmt ein Wunschzettel, der weiss leuchtet.
«Wünsche» heisst auch der Titel des Werks der südkoreanischen Künstlerin Hyun-Bi Gerhard-Choi, die damit eine langgehegte Idee verwirklicht. Seit Jahren hat sie Menschen gefragt, wonach sie sich sehnen: Alte und junge, Frauen und Männer, Ausländer und Inländer, Bekannte und Fremde. Sie sammelte die Wünsche und wollte ihnen eine Gestalt geben. Nun hat sie das passende Gefäss dafür geschaffen und damit ein Kunstwerk. Sie hat das, was in uns verborgen lag, sichtbar gemacht. Der Schritt von Schale zu Schale ist ein Schritt von Wunsch zu Wunsch und zugleich ein Schritt von Mensch zu Mensch. Wünschen und Sehnen gehören zu uns Menschen und zum Leben. Um das Geschriebene zu lesen, muss man immer wieder anhalten und sich bücken. Das Werk lädt ein, langsam zu sein und zu verweilen. Man liest dann: Herzklopfen, Wärme, ein Lied, eine Katze, Wiedergeburt, Sommernächte, Ruhe in mir selbst ...
Gerhard-Choi ist eine Bildnerische Künstlerin, die gern mit Dingen aus dem Alltag arbeitet. Das Nachdenken darüber, wie Kunst zum Leben stehe, begleitet ihr gesamtes Schaffen. Ein elitäres Kunstverständnis besass sie nie, sondern sie versuchte vielmehr, aus dem Leben heraus Kunst zu formen. Dass sie gern Installationen fertigt, ist, so gesehen, mehr als natürlich. Sie verwandelt Alltagsobjekte in Kunst, indem sie ihnen neue Formen gibt und eine ihr eigene Ästhetik kreiert. Bekannt sind ihre Werke aus dem Jahr 2013. Sie hat aus Papprollen und grünem Krepppapier wunderschöne Bambuswälder entstehen lassen, aus Streifen von Zeitungspapier ein labyrinthisches Dickicht geschaffen, in dem man sich verirren kann und aus aufgefädeltem Popcorn ein raumfüllendes Werk gefertigt, das von faszinierendem Wechselspiel zwischen Verbergen und Sichtbarmachen lebt und ein ungewöhnliches Raumerlebnis ermöglicht. Gerhard-Choi lässt die Betrachter erleben, wie wandlungsfähig Materialien sind und wie Formen und Schönheit zusammenspielen.
Gefragt nach Künstlern, die sie geprägt haben, hat Gerhard-Choi oft einige Namen genannt. Marcel Duchamp gehört dazu, ebenso John Cage und Nam Jun Paik. Ihnen war gemeinsam, dass sie das tradierte Verständnis dessen, was Kunst sei, in Frage stellten und nach einem offenen Kunstkonzept suchten. Der Begriff der Kunst erweiterte sich. Neue Formen entstanden, neue Medien kamen hinzu und neue Diskurse über die Kunst wurden möglich. Vor allem habe aber John Cage auf sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Er habe ihr geholfen, eine eigene Identität als Künstlerin zu finden. Cage war Komponist und Künstler und wirkte an der Entstehung der Fluxusbewegung mit, die in den 1960er Jahren aufkam. Fluxus ist eine Form
der Aktionskunst, die sich zu einer mächtigen Avantgarde entwickelte. Wie das Wort sagt, soll alles fliessen und ineinander übergehen. So wie Cage sich zwischen verschiedenen Kunstgattungen frei bewegte, wollte er auch keine Grenze zwischen Kunst und Leben anerkennen. Leben soll ein Kunstwerk und Kunst im Leben verankert sein. Cage hat sich dem Zen-Buddhismus zugewandt, meditierte und lebte in seinem Geist. Er besass eine ungewöhnlich offene Geisteshaltung. Gerhard-Choi empfand eine grosse geistige Nähe zu Cage und sein buddhistisch orientiertes Kunstverständnis habe, wie sie sagt, wie «warmer Frühlingsregen» auf sie gewirkt. Sie fand hier eine künstlerische Heimat. Denn der Son-Buddhismus, wie der Zen-Buddhismus in Korea genannt wird, ist die wichtigste buddhistische Strömung Südkoreas und stellt heute noch den grössten Orden. Der Buddhismus lehrt nicht nur, dass alles sich ständig wandelt und darum im Fluss ist, sondern auch, wie Cage betonte, dass selbst ein gewöhnlicher Stein oder ein Grashalm am Wegrand wertvoll und berechtigt ist, in der Welt zu sein. Damals habe sie, so Gerhard-Choi, angefangen, anders auf die Welt zu schauen, mit Alltagsobjekten zu arbeiten und sich mit Recycling zu beschäftigen.
Gerhard-Choi entwickelte darum einen besonderen Blick für die Umgebung. Ihr gewachsenes Interesse an Dingen, die um uns sind, liess sie aufmerksamer und wacher schauen. Sie halte gern Ausschau nach Dingen, die verborgen, leise und unauffällig sind. Diese Zuwendung ermöglicht es, Objekte zu finden und mit ihnen zu arbeiten. Diese formt sie so um, dass eine andere Ästhetik zum Vorschein kommt. Es sei jedes Mal von neuem eine faszinierende Erfahrung, diesen Wandlungsprozess zu gestalten.
Kunstschaffen ist Händearbeit und Hände bewirken Magie. Ideen und Gedanken, die man im Kopf hat, sind wichtig, machen den Anfang, aber sind noch formlos, haben keine Materialität und sind darum noch kein Kunstwerk. Erst wenn ein Künstler oder eine Künstlerin ihre Hände bewegt, entstehen Farben, Formen und Werke.
Gerhard-Choi liebt Händearbeit. Sie sagt, dass ihre Arbeit viel Ausdauer und Zeit braucht. Sie muss geduldig den Dingen und ihrer Materialität zuarbeiten, bis aus Objekten des Alltags ein Kunstwerk entsteht. Sie webt die Zeit in ihr Werk hinein und betrachtet das Schaffen von Kunst als eine meditative Tätigkeit. Indem sie sich ruhig und konzentriert Dingen hingibt, diese bearbeitet und verwandelt, fühlt sie sich innerlich mit ihnen verbunden. Sie lernt, sich zurückzunehmen und sich auf Beziehung einzulassen, weil Dinge auch ihre Eigenheiten besitzen. Am schwierigsten sei es, so Gerhard-Choi, das Warten einzuüben und einen Schritt nach dem anderen zu tun. Hört man, wie die Schalen entstanden sind, versteht man, was sie meint.
Sie sammelte Kartons, um daraus eine formbare Masse herzustellen. Sie wurden zerkleinert, im Wasser aufgeweicht und gekocht. War die Masse erkaltet, wurde diese in einem Mixer püriert und gepresst und mit Kleister vermischt. Um eine Rohfassung herzustellen, bestrich Gerhard-Choi die Innenseite verschiedener Gefässe mit Öl und danach mit dem Teig. Nach einem Tag an der Sommersonne liess sich die Form von der Gefässwand lösen. Dann bearbeitete sie die Schalen weiter mit der Hand, bis jedes einzelnes Stück die gewünschte Grösse und Form annahm. So erhielt es eine unverwechselbare individuelle Gestalt. War diese Arbeit beendet, hiess es warten, bis alle Schalen trocken sind. Es dauerte zwischen zwei Tagen und einer Woche. Als letzter Schritt folgte das Lackieren, um die Schalen wasserdicht zu machen und der Mattigkeit der Oberfläche etwas Glanz zu verleihen. Dreimal musste der Lack aufgetragen werden. Erneut hiess es immer wieder warten, bis er trocken ist. Jede Schale
benötigte mindestens vier Tage. Dann stand das Werk in fertiger Gestalt da, mit Wasser gefüllt und dem Wunschzettel darin.
Es ist ein langer Prozess der Wandlung, der sich im Werk vollendet. Die Idee, die im geistigen Auge schwebte, ist realisiert. Man spürt die Magie, welche die Hände bewirken. Zugleich ist Kunstschaffen immer auch eine innere Reise der Künstlerin.